Seit der Antike wird über die Position der Medizin zwischen Wissenschaft (scientia)
und Kunst (ars) sowie im Spektrum der Natur- und Geisteswissenschaften nachgedacht.
Bis in die Gegenwart sind die Auffassungen nicht einheitlich, werden weiterhin die Akzente unterschiedlich gesetzt, abweichend auch für die verschiedenen medizinischen Disziplinen und therapeutischen Situationen. Ebenso vielfältig sind die Vorstellungen über die Heilkraft der Künste oder ihren Beitrag für Diagnostik und Therapie sowie die praktischen Umsetzungen im medizinischen Alltag.
Die naturwissenschaftliche Medizin steht heute bei allen unbezweifelbaren Erfolgen
vor ihrer anthropologischen Herausforderung, d. h. vor der Aufgabe, die psycho-physische und sozial-kulturelle Natur des Menschen mit den Naturwissenschaften und der Technik in Verbindung zu bringen. Es geht nicht um Außenseiterverfahren oder Alternativmedizin, sondern um Ergänzungen der wissenschaftlich fundierten Medizin, auf die zum Wohl gegenwärtiger und zukünftiger Patienten nicht verzichtet werden kann. Hospizbewegung, Palliativstationen und Medizinische Ethik kennzeichnen gegenwärtige Versuche einer Vertiefung oder Erweiterung der Medizin, die mit dem modernen Begriff Medical Humanities angemessen umschrieben werden kann und wozu Literatur und Künste genuin gehören. Wissenschaft und Humanität schließen sich nicht aus, sind in der Medizin als einer Handlungswissenschaft, die es im Unterschied zur Technik nicht mit Maschinen, vielmehr mit Menschen mit Bewusstsein, Sprache und sozialen Beziehungen zu tun hat, vielmehr aufeinander bezogen und bedingen einander.
‚Personalisierte Medizin‘ und ‚evidenzbasierte Medizin‘ sind weitere programmatische
Stichworte der Gegenwart, für die Literatur und Künste eine konzeptionell konstruktive Rolle spielen oder spielen können. ‚Person‘ geht, was in literarischenDarstellungen und Deutungen unmittelbar und eindrucksvoll manifest wird, über die für Diagnostik und Therapie ohne Zweifel entscheidende genetische oder biologische Individualität hinaus, meint subjektive und soziale Dimensionen des Kranken, seine Identität und Kontinuität im Krankheitsverlauf. Auch ‚Evidenz‘ besitzt in der europäischen Tradition einen äußerlich-objektiven und einen innerlich-subjektiven Sinn, kann empirischer Beweis wie ebenfalls intuitive Einsicht bedeuten. Beide Typen verdienen in der Diagnostik und Therapie wie auch in der Forschung Beachtung.
Das Medizinstudium sollte auf die spätere ärztliche Tätigkeit auch in dieser Perspektive
vorbereiten und kann deshalb nicht nur auf die naturwissenschaftliche und klinische Ausbildung beschränkt werden, sondern wird auch geisteswissenschaftliche, anthropologische und kulturelle Aspekte umfassen. In diesem Sinne wurde 1970 eine neue Approbationsordnung für das Medizinstudium verabschiedet: Geschichte, Theorie und Ethik (GTE) sollten von nun an obligatorisch in der Lehre vorkommen. Der ebenso obligatorische Terminologiekurs im ersten vorklinischen Semester könnte sinnvollerweise auch nicht nur philologisch im engeren Sinne Präfixe und Suffixe, anatomische Richtungsbezeichnungen, Krankheitsnamen, diagnostische und therapeutische Begriffe behandeln, vielmehr zugleich und vor allem mit der Sprache des Kranken, der Sprache des Arztes und der Sprache der Medizin als Wissenschaft in historischer und gegenwärtiger Sicht vertraut machen.
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Der Beitrag der Literatur und Künste für eine moderne und humane Medizin. Kontext – Erfahrungen – Dimensionen – Perspektiven