„Christliches Abendland“ Politischer Kampfbegriff oder Muster für ein Miteinander der voneinander Verschiedenen?

Published: 08. May 2019
Category: World Religions
Author: Regina Radlbeck-Ossmann

Die Rede vom Abendland ist wieder en vogue. Sie begegnet heute bevorzugt im Umfeld politisch rechter Gruppierungen, die zeitgenössische Herausforderungen populistisch aufgreifen und mit Tabubrüchen von sich reden machen. Der Begriff „Abendland“ wird dabei gerade nicht mit supranational europäischen Positionen verbunden, sondern auf national deutsche Interessen enggeführt. Zusätzliche Verwirrung entsteht, wenn darüber hinaus das „christliche Abendland“ bemüht wird. Gruppierungen, die diese Begriffe im Munde führen, fallen nämlich vermehrt mit Aussagen auf, die vom christlichen Ethos ebenso weit entfernt sind wie von der europäischen Humanitätstradition.
Die neue Abendlandrhetorik provoziert daher, und sie fordert Gegenmeinungen heraus. Schon mehren sich die Stimmen, die die Sinnhaftigkeit der Rede vom Abendland im Allgemeinen und vom christlichen Abendland im Besonderen anzweifeln und dafür plädieren, auf beide Begriffe künftig zu verzichten. Gegen diese Lösung spricht einmal schon, dass man den Rechtspopulisten damit die Deutungshoheit über einen traditionsreichen Begriff überlässt. Gegen sie spricht weiterhin, dass der Verlust des fraglichen Begriffs besonders schwer wiegt. Dieser ist in seinem genuinen Bedeutungsgehalt nämlich gerade nicht ausgrenzend, sondern integrativ angelegt. Historische und theologische Präzisierungen sind allerdings nötig, um das im aktuellen Sprachgebrauch verdunkelte integrative Potential der Begrifflichkeit aufleuchten zu lassen.

 

1 Okzident, Abendland, Europa – historische Präzisierungen

Die neue Rede vom christlichen Abendland erhebt den Anspruch, in ihrer ausgrenzenden Wirkung alte Traditionen fortzuschreiben. Historische Präzisierungen zeigen: das Gegenteil ist der Fall. Markante Fixpunkte hierzu liefert die Begriffsgeschichte. Sowohl die ursprüngliche, himmelskundliche Bedeutung des Begriffs wie auch die zunächst geopolitischen und später kulturellen Kontexte seiner Verwendung sind in ihrer Aussage sehr klar und sehr klar anders.

 

1.1 „Ex oriente lux!“ – Begriffsgeschichtliches zum Verhältnis von Orient und Okzident

Der lateinischstämmige Begriff „Okzident“ besitzt eine himmelskundliche Grundlage. Er bezeichnet zunächst die Himmelsrichtung Westen als Ort des Sonnenuntergangs. Sein Gegenstück, der Begriff „Orient“, verweist analog auf den Osten als Ort der aufgehenden Sonne. Die beiden Begriffe sind über die Metaphorik des Sonnenlaufs also unauflöslich aufeinander bezogen.

Fragt man, welchem von ihnen unter Umständen ein Vorrang zukommt, so kann die Antwort nur auf den Orient verweisen. Kulturübergreifend wird dem Aufgang der Sonne ein Vorrang zuerkannt. Während die aufgehende Sonne nämlich mit lebensfördernden Zuständen wie Helligkeit, Wärme und Kraft verbunden wird, sind der niedergehenden Sonne eher lebensfeindliche Konnotationen wie Dunkel, Kälte und Unsicherheit zugeordnet.

Bezieht man über den wörtlichen Sinn hinaus übertragene Bedeutungen mit ein, so tritt der Vorrang des Sonnenaufgangs vor dem Sonnenuntergang noch klarer zu Tage. In epistemischer Hinsicht entspricht dem Aufgang des Lichtes ein Zugewinn an Erkenntnis, Wissen und Weisheit, während das Schwinden des Lichtes an Undurchdringlichkeit, Ohnmacht und Unwissenheit zu erinnert. Im Extremfall kann der Sonnenuntergang sogar symbolisch für geistige Umnachtung und kulturellen Niedergang stehen. Analoges gilt für die Verwendung der Lichtmetapher im moralischen Bereich. Der Aufgang des Lichtes verbindet sich in moralischer Hinsicht mit Wahrheit, Gerechtigkeit und Reinheit, sein Niedergang hingegen mit Gemeinheit, betrügerischen Machenschaften und dem Verfall der guten Sitten.

Der Vorrang des Orients ist zudem kulturgeschichtlich begründet. Gebiete, die von Europa aus gesehen im Osten lagen, wirkten nachweislich als Impulsgeber kultureller Entwicklung. Im Vorderen Orient lag der Ursprung des Ackerbaus und der Sesshaftigkeit. Im Orient und nicht im okzidentalen Europa entstanden darüber hinaus die großen Hochkulturen wie auch die den Kontinent später prägenden Hochreligionen. Darüber hinaus gilt globalgeschichtlich, dass die im Vorderen Orient beheimateten Kulturen der Ägypter, Babylonier und Assyrer ihrerseits von den noch weiter im Osten gelegenen Hochkulturen Persiens, Indiens und Chinas anregende Impulse empfingen.
Lexikalisch und semantisch pragmatisch liegen die Dinge also klar: Die Begriffe Orient und Okzident sind Teile eines Begriffspaares. Fragt man nach Unterschieden in der Wertigkeit, so tritt wegen der Metaphorik des Lichtes wie aufgrund des jahrtausendealten kulturellen Gefälles ganz klar nicht der Okzident, sondern der Orient hervor. Der lateinische Ausruf „Ex oriente lux!“ bringt diesen Vorrang prägnant zum Ausdruck.

 

1.2 „Orient“ und „Okzident“ als geopolitische Begriffe im römischen Reich

In römischer Zeit gewannen die Begriffe „Orient“ und „Okzident“ eine festumrissene geopolitische Bedeutung. Das römische Imperium umspannte die an das Mittelmeer angrenzenden Länder und deren Anrainergebiete. Daraus ergab sich eine Ost-West-Ausdehnung, die unter den Bedingungen der Antike nicht leicht zu beherrschen war. In politisch unsicheren Zeiten entschloss man sich deshalb bisweilen dazu, die Herrschaft zu teilen. Dies geschah ein erstes Mal nach Cäsars Tod bei der Reichsteilung von Brundisium (40 v. Chr.).

Hinter dem im äußersten Westen Italiens gelegenen Brundisium zog man damals eine Grenze, die als schnurgerade Linie nach Süden führend im Golf von Sidra auslief. Sie teilte den Mittelmeerraum ziemlich genau in zwei Hälften. Das Kernsiedlungsgebiet Latium und die Hauptstadt Rom entfielen auf den Westteil des Imperiums, diesem stand ein von Rom weiter entfernter, aber reicherer Ostteil gegenüber. Das für damalige Verhältnisse riesige Imperium galt dabei nach wie vor als eines, es war lediglich in Zuständigkeitsbereiche aufgeteilt. Mit der Grenzziehung  hatte man also weniger das Reich als vielmehr die Herrschaft geteilt. Änderte sich die politische Lage, wurde das Imperium wieder unter einem einzigen Herrscher vereint. Diese flexible Sicht zeigte sich in christlicher Zeit etwa bei der 395 n. Chr. durch Kaiser Theodosius vollzogenen Reichsteilung. Arcadius und Honorius, die Söhne des Theodosius, erhielten beide den Kaisertitel mit einem jeweils erklärenden Zusatz. Beide bauten einen kaiserlichen Hof auf. Als Arcadius nach kurzer Amtszeit starb, galt Honorius sofort wieder als gesamtrömischer Kaiser, da man auch in diesem Fall nicht das Reich selbst, sondern lediglich die Herrschaft geteilt hatte.

 

1.3 Ost-West-Beziehungen in mittelalterlichen Reichen

In der ausgehenden Antike sorgten äußere Bedingungen dafür, dass der Zusammenhalt im Imperium Romanum schwand. Die Wanderungsbewegungen der Spätantike brachten beide Reichsteile unter so starken äußeren Druck, dass diese sich auf ihre je eigenen Belange konzentrierten. Das Westreich litt unter den von Norden her einwandernden Germanen, das Ostreich unter den Reitervölkern, die aus den eurasischen Steppen vordrangen. Dies führte nicht nur zu Gebietsverlusten, sondern auch zu empfindlichen kulturellen Einbußen. Sie bewirkten, dass Griechen und Lateiner sich bald schon rein sprachlich nicht mehr verstanden. Hinzu kam, dass unter den neuen Bedingungen auch das Reisen gefährlicher geworden war. Die Folge war eine wachsende Entfremdung zwischen Ost und West.

Das Westreich wirkte dem Ausdünnen seiner einst vitalen Verbindung zum Osten entgegen, indem es sich unter fränkischem Einfluss allmählich nach Norden öffnete und sein Gebiet um Teile Mittel- und Nordeuropas erweiterte. Damit verlagerte sich das Westreich vom Mittelmeerraum aus nordwärts, so dass es immer mehr in die Grenzen des heutigen Europa hineinwuchs. Mit der vom 7. Jahrhundert an erfolgenden Ausbreitung des Islam gingen zudem die nordafrikanischen und vorderasiatischen Gebiete des römischen Reiches verloren. Im Westreich stand dem Verlust südlicher Reichsteile immerhin der Gewinn nördlicher Länder gegenüber. Das Ostreich war weniger glücklich. Der Großteil seiner Gebiete gehörte nun arabischen Eroberern. Auf dem Gebiet des ehemaligen Imperium Romanum war damit eine territoriale Neuordnung erfolgt, bei der mit dem Gegenüber von Christentum und Islam die Religion eine maßgebliche Rolle spielte. Das Christentum war von diesem Zeitpunkt an nach innen betrachtet das einende Band, nach außen hingegen das unterscheidende Merkmal.

Der schwindenden politischen Verbundenheit zwischen West und Ost entsprach der Schwund kirchlicher Beziehungen. Im Jahre 1054 kam es zum offiziellen Bruch zwischen der West- und der Ostkirche. Dieses Ereignis war der Schlussstein einer langen Entwicklung, in der die beiden Teilkirchen auseinander gedriftet waren. Im Wissen um ihre grundlegende Zusammengehörigkeit blieb eine zumindest lose Verbindung erhalten. Die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit war ein Ziel, das man wiederholt anstrebte, aber nicht erreichte.

 

1.4 Von „Orient“ und „Okzident“ über „Morgenland“ und „Abendland“ zu Europa.
Facetten der jüngeren Begriffsgeschichte

Das Lateinische diente der gebildeten Bevölkerung Europas bis in die Neuzeit hinein als Verkehrssprache. Erst als der Humanismus des 16. Jahrhunderts eine Aufwertung der Landessprache anstieß, wagte man sich an die Lehnübersetzung fremdsprachiger Begriffe. So gewann das Deutsche im 16. Jahrhundert einen eigenen Begriff für das, was man bis dahin als „Okzident“ bezeichnet hatte. Allerdings scheint der Orient ihm dabei erneut zuvorgekommen zu sein. Martin Luther benötigte das Wort in seiner Bibelübersetzung, um die Mt 2,1ff berichtete Perikope vom Besuch der drei Sterndeuter an der Krippe ins Deutsche zu übertragen. Der Reformator sprach von den „drei Weisen aus dem Morgenland“ (!). Wenig später prägte Kaspar Hedio in Straßburg mit dem Wort „Abendland“ das zugehörige Gegenstück.

Die Begriffsgeschichte der Lehnübersetzung „Abendland“ kann in großen Schritten nachvollzogen werden. In der Romantik nutzen die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel den Begriff, um gemeinsam mit Novalis von Westeuropa als einem eigenen Kulturraum zu sprechen, der im Morgenland sein Gegenstück finde. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichte der Kulturphilosoph Oswald Spengler sein Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“. Darin unterstellt er eine organische Entwicklung von Kulturen, bei der auf Phasen des Wachstums Stadien des Verfalls folgen. Die zentralen Aussagen des Philosophen gelten inzwischen als überholt. Der prägnante Titel hält das Werk jedoch in Erinnerung.

Wenig später versuchten die Nationalsozialisten, über die Rede vom Abendland zu einer möglichst scharfen Abgrenzung von der slawischen und jüdischen Kultur zu kommen. Diese Zielsetzung verlangte tiefgreifende ideengeschichtliche Einschnitte. Über männlich heroische Inszenierungen verpasste man der abendländischen Tradition ein betont kantiges Profil. Die mehr als 2000-jährige Abendlandtradition erwies sich jedoch als sperrig. Die Erfolge blieben aus, und so gab man die Rede vom Abendland bald auf, um die eigene Propaganda wieder unverhüllt an deutsch-nationalen Zielen auszurichten. Nach Kriegsende griffen bürgerlich-konservative Kreise auf die Rede vom christlichen Abendland zurück, um ihr Unbehagen an der zeitgenössischen politischen und geistigen Situation zum Ausdruck zu bringen. Die Rede vom Abendland empfahl sich aus ihrer Sicht, weil sie nicht in Gefahr stand, in deutsch-nationaler Weise missverstanden zu werden.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der darauf folgenden EU-Osterweiterung verschoben sich die Begriffsgrenzen noch einmal. Nun wurden die Länder Ost- und Südosteuropas einbezogen, wodurch das mit „Abendland“ bezeichnete Gebiet in etwa deckungsgleich mit Europa wurde. Im kirchlichen Bereich unterscheidet man bis heute eine lateinisch sprechende Westkirche und eine griechisch sprechende Ostkirche. Die Teilung beider Territorien folgt der mehr als 2000 Jahre alten Grenzlinie von Brundisium. In politischer wie in kultureller Hinsicht würde gegenwärtig niemand zögern, Griechenland und andere ostkirchliche Gebiete zum Abendland zu rechnen. Die Begriffe „Europa“ und „Abendland“ sind damit weitgehend zu Synonymen geworden.

Vom „Morgenland“ spricht heute niemand mehr. Stattdessen sind Bezeichnungen üblich geworden, die auf den „Vorderen“ oder „Nahen Osten“ verweisen. Diese Begriffe zeigen, dass der Horizont der Betrachter sich geweitet hat, weshalb er über den ihm räumlich näher gelegenen Vorderen Orient hinausfragt und den Fernen Orient in seine Überlegungen einbezieht.

 

2 „Christliches Abendland“ - Theologische Präzisierungen

Die Rede vom „christlichen Abendland“ lässt in ihrer schlagwortartigen Kürze Raum für Fehlinterpretationen. Theologische Präzisierungen tun daher not. Zu erläutern ist allem voran, wieso man vom „christlichen Abendland“ sprechen kann, obwohl das Abendland zu keiner Zeit flächendeckend christlich gewesen ist. Darüber hinaus gilt es aufzuzeigen, welche prägenden Impulse das Christentum in den abendländischen Kulturraum eingebracht hat.

 

2.1 Christliche Mehrheitsreligion und religiöse Vielfalt

Das Christentum war von staatskirchlicher Zeit an im Westen wie im Osten des römischen Reiches die offizielle Religion. Die Mehrheit der Bevölkerung war christlich, ein christlicher Deutungshorizont bestimmte das Denken der gesellschaftlich führenden Schichten. Von der Spätantike an wirkte das Christentum damit prägend auf die abendländische Kultur. Der christliche Glaube wurzelte in den kulturellen Zentren bald so fest ein, dass Europa zum ersten christlichen Kontinent wurde. Diese Prägung galt während der längsten Zeit seiner Geschichte als selbstverständlich.[1] Die Rede vom christlichen Abendland ist von daher berechtigt.

Im römischen Reich überwogen zunächst ethnische Religionen, deren Vielzahl sich zwanglos aus der Vielzahl der im Imperium vertretenen Ethnien erklärt. Das Christentum hat diese frühen, einfachen Religionen im Laufe der Zeit teils aktiv verdrängt, teils überlagert und allmählich aufgesogen. Von staatskirchlicher Zeit an war die heidnische Religiosität einem starken, politisch begründeten Assimilationsdruck ausgesetzt. Dies führte dazu, dass indigene Kulte immer weiter ausdünnten und sich als selbständige Religionen allenfalls noch in schwach besiedelten Gebieten halten konnten. Die staatlichen Repressalien konzentrierten sich vorwiegend auf den öffentlichen Kult. Im kaum zu kontrollierenden Bereich privater Frömmigkeit blieben heidnische Deutungen und Praktiken oft deutlich länger erhalten.

Neben Heiden und Christen gab es im Abendland stets eine beachtliche Anzahl von Juden. Aufgrund der Eroberungszüge, die Palästina bereits in vorchristlicher Zeit erschütterten, hatte ein beachtlicher Teil der jüdischen Bevölkerung früh ein Leben in der Diaspora gewählt. Jüdische Gemeinden waren deshalb bereits in vorchristlicher Zeit im gesamten römischen Reich anzutreffen. Der von den Juden vertretene Eingottglaube imponierte insbesondere den Gebildeten im Reich. Dies trug dazu bei, dass das Judentum in Rom als erlaubte Religion galt und offiziell geduldet war. Die rund zwei Jahrtausende währenden Beziehungen zwischen Juden und Christen waren insgesamt differenzierter als man dies, unter dem Eindruck des im 20. Jahrhundert verübten Holocaust stehend, heute weithin vermutet.[2]

Vom achten Jahrhundert an lebten neben Christen, Juden und Heiden zudem Muslime in Europa. Bereits im 7. Jahrhundert hatten muslimische Heere Kreta, Sizilien und Sardinien erobert. Im 8. Jahrhundert brachten sie darüber hinaus einen Großteil der iberischen Halbinsel unter ihre Herrschaft. Zeitweise gehörten auch Teile Frankreichs und Italiens zum muslimischen Gebiet. Im Osten des Reiches war das Vordringen des Islam zunächst in Konstantinopel gestoppt worden, bis 1453 auch diese Stadt erobert wurde. Die muslimische Expansion verband religiöse Interessen mit militärischen, politischen und wirtschaftlichen Zielen. Teile der eroberten Gebiete waren beständig unter muslimischer Oberhoheit, andere wurden von christlichen Heeren zurückerobert, wobei die Herrschaft in manchen Regionen sogar mehrfach wechselte.

Die drei monotheistischen Religionen traten aufgrund ihrer Geltungsansprüche in Konkurrenz zueinander. Während des langen Zeitraumes einer Koexistenz schöpfte ihr gegenseitiges Verhältnis die ganze Bandbreite geschwisterlicher Beziehungen aus. Neben Phasen, in denen man miteinander rivalisierte bis hin zu dem Punkt, an dem man sich gegenseitig die Daseinsberechtigung absprach, gab es auch solche, in denen man friedlich und höchst produktiv zusammenlebte.[3]

Historiker haben in den letzten Jahrzehnten den weitreichenden Einfluss nachgezeichnet, den jüdisches Denken und jüdische Lebenspraxis auf die abendländische Kultur ausgeübt haben. Analoges fördert die Geschichtswissenschaft heute für den Austausch mit dem Islam zutage. Bemerkenswert ist, dass die Juden, insbesondere in Spanien, oft zu Vermittlern zwischen der christlichen und der muslimischen Welt wurden. Dies weist daraufhin, dass die Begegnung der drei monotheistischen Religionen komplexere Strukturen hatte als vielfach angenommen. Zwischen den drei Religionen und den von ihnen geprägten Milieus kam es nachweislich zu einer intensiven gegenseitigen Beeinflussung. Die Auswirkungen dieses Austausches sind bis heute auf den Gebieten der Philosophie und der Theologie, der Technik und der Kunst, aber auch des Alltagslebens und der Lebenskunst zu spüren. Historiker bringen die lange Anwesenheit dreier monotheistischer Religionen darüber hinaus mit der auffallenden Duldung innerer Vielfalt zusammen, die das Abendland vor anderen Kulturräumen auszeichnet.[4] Über militärische Expansionen, religiöse Aufbrüche und nicht zuletzt durch Handelsbeziehungen kamen Europäer darüber hinaus in Kontakt mit fernöstlichen Religionen.[5]

 

2.2 Der Beitrag des Christentums zur kulturellen Identität des Abendlandes

Das Christentum hat in den griechisch-römischen wie auch in den germanischen und hispanischen Kulturraum markante, nachhaltig wirkende, neue Impulse eingebracht. Vier dieser Impulse seien im Folgenden vorgestellt. Ein erster ergab sich aus dem christlichen Menschenbild. Weitere Impulse erwuchsen aus der für das Christentum spezifischen Deutung des Raumes und der Zeit. Ein vierter Impuls folgte aus der Größe, die im Mittelpunkt jeder Religion steht: das Verständnis Gottes. Die ersten drei der genannten vier Impulse wurzeln in den religiösen Traditionen des Judentums, an denen das Christentum partizipiert. Der vierte ist spezifisch christlich.

 

2.2.1 Der Mensch als Ebenbild Gottes

Die für das Christentum zentrale anthropologische Aussage findet sich Gen 1,27. Dort heißt es: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“. Die Bezeichnung des Menschen als Gottes Abbild oder Ebenbild greift einen Ehrentitel auf, der im Vorderen Orient für Großkönige gebraucht wurde und in Ägypten etwa dem Titel des Pharao entsprach. Drei Aussagen sind aus diesem Vers abzuleiten.

Eine erste Aussage zielt auf die individuelle Würde des Menschen. Sie betont, dass jeder Mensch unabhängig von seinen Vorleistungen und seinem Geschlecht Achtung verdient. In sozialer Hinsicht weist der Gen 1,27 verliehene Ehrentitel den Menschen als Stellvertreter Gottes aus. Daraus folgt, dass jeder Mensch nach Gottes Willen in würdevollen Verhältnissen leben soll. Lebensbedrohender Mangel, Unterdrückung und Knechtschaft sind mit seiner Auszeichnung nicht zu vereinbaren. Mit dieser Aussage wendet der Text sich indirekt gegen Herrschaftsformen, die unfähig sind, gedeihliche Zustände heraufzuführen oder, schlimmer noch, gar aktiv versklavende Zustände schaffen. Die klare Grenzziehung zum Negativen hin lässt offen, was die biblische Aussage in einem umgekehrten, positiven Sinn bedeutet. Diese Offenheit wirkte als Stachel und Ansporn. Die Frage nach einer Gesellschaft, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen an ihr Ende gekommen ist und in der es deshalb nur noch Könige und Königinnen gibt, hat die politische Philosophie des Abendlandes bis heute herausgefordert.[6] Die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ist deshalb als „konkrete Utopie“ anzusehen. Sie trug dazu bei, dass reale Verhältnisse immer wieder neu infrage gestellt wurden, und half damit ein Wachstum zum Besseren anzustoßen.

Eine zweite Aussage, die aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgt, betrifft dessen Tätigsein. Gott selbst erscheint im Text als der durch und durch Schöpferische. Zu seinem Handeln gehört das Merkmal bedachter, kritisch prüfender Überlegung ebenso wie das souveräner Freiheit. Als Abbild Gottes ist der Mensch aufgerufen, an diesem Merkmal Maß zu nehmen und selbst ebenfalls schöpferisch zu sein. Sein Handeln ist also nicht auf die endlose Reproduktion bestehender Muster festgelegt. Vielmehr darf und soll dieses Handeln frei, kreativ und innovativ erfolgen.

Die dritte Aussage, die Gen 1,27 zu entnehmen ist, betrifft das Ziel menschlichen Handelns. Erneut ist das Handeln Gottes als Urbild zu verstehen. Die dem Menschen zuerkannte schöpferische Freiheit ist deshalb kein Freibrief für ein schrankenloses Willkürhandeln. Als Stellvertreter Gottes muss der Mensch vielmehr bestrebt sein, wie Gott selbst mit jeder Tat immer reicheres Leben hervorzulocken und einer stets größeren Fülle von Lebendigkeit Raum zu schaffen.

 

2.2.2 Die Welt als Raum menschlichen Handelns

Das Christentum hat das Verhältnis des Menschen zur Welt als Umwelt und damit das Verständnis des Raumes neu bestimmt. Die jüdisch-christliche Tradition brach mit dem Gedanken einer numinos aufgeladenen Natur. Damit setzte sie sich von älteren Vorstellungen ab, die natürliche Gegebenheiten wie Berge, Quellen, Bäume oder Tiere zu heiligen Wesen erklärten und ihnen damit eine für den Menschen unantastbare Stellung zuschrieben. Mit den biblischen Aussagen wird allen naturreligiös begründeten Auratisierungen der Boden entzogen und die Position des Menschen neu bestimmt. Die Welt gilt biblisch zwar als Werk Gottes und damit als grundsätzlich gut, sie wird dem Menschen jedoch als Lebensraum zugeordnet, über den er weitgehend frei verfügen kann. Im freien Umgang mit der Welt darf der Mensch erfahren, was es heißt, Gottes Ebenbild zu sein.

Die Entsakralisierung der Welt kann in ihrer historischen Bedeutung kaum überschätzt werden. Das Eindringen des Menschen in alle Winkel des Raumes war damit nämlich von religiösen Tabuisierungen befreit. Der Mensch durfte die ihn umgebenden, schier unermesslichen Räume erforschen und umgestalten, wobei ihm beides nicht nur im Sinne einer erlaubten Handlung gestattet, sondern sogar ausdrücklich geboten war. Kein Zorn der Götter konnte ihn noch davon abhalten. Die Entgrenzung des Raumes wurde daher zu einem wesentlichen Fundament abendländischen Freiheitsdenkens.

Mit dem neuen Verständnis des Raumes war das Verhältnis des Menschen zur Welt neu bestimmt. Die Welt war nun der Raum, der menschlicher Freiheit und Kreativität offenstand. Die neu definierten religiösen Zusammenhänge erklären, warum die abendländische Kultur Freiheit stets positiv gesehen hat, während andere Kulturen sie ganz überwiegend als Ausdruck von Bindungslosigkeit, wenn nicht gar als Zeichen asozialer Gesinnung beargwöhnten.[7] Die zeitgenössische Forschung hat herausgearbeitet, dass die religiös begründete Wertschätzung persönlicher Freiheit ein wesentlicher Faktor war, der Christen zum Kampf gegen die weltweit verbreitete Institution der Sklaverei motivierte und schließlich sogar deren Ächtung bewirkte. Indem die Freiheit der Person nämlich religiös begründet war, galt sie als grundlegender Wert, der menschlichem Zugriff entzogen war.

Die Neubestimmung des Raumes war darüber hinaus folgenreich für die Entwicklung abendländischer Rationalität. Die aus der Gottebenbildlichkeit folgende Berufung, wie Gott selbst kreativ und frei zu handeln, begünstigte zusammen mit der Neubestimmung des Raumes, dass der Mensch in seinem Denken immer weiter ausgriff. Die biblische Position harmonierte bestens mit dem Denken eines Sokrates, Platon und Aristoteles. Das Zusammenspiel der biblischen und der griechischen Tradition spornte das Denken der Menschen an. Es lockte sie, den begrenzten, für das eigene Leben unmittelbar bedeutsamen Rahmen zu überschreiten und jeden beliebigen Aspekt der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen. Bemerkenswert ist, dass man dabei die Religion selbst von einer solchen  kritischen Betrachtung nicht ausnahm.

 

2.2.3 Die Zeit als Freiraum wirklichen Handelns

Neben dem Verständnis des Raumes hat das Christentum auch das im Abendland vorherrschende Verständnis der Zeit grundlegend geprägt. Eine erste, konkrete Folge scheint bereits in der Zeitrechnung auf, die die Menschwerdung des Sohnes Gottes als das zentrale Datum der Weltgeschichte betrachtet und sie als Zäsur einer Zeitenwende versteht. Der Einfluss der jüdisch-christlichen Tradition auf das Verständnis der Zeit geht über diese bedeutsame Strukturierung jedoch hinaus. Es ist grundsätzlicher.

Die biblische Tradition setzte mythischen Zeitvorstellungen, die sich an den regelmäßig wiederkehrenden Rhythmen der Natur orientierten, ein definitives Ende. Hatte das archaische Denken Zeit noch als Wiederkehr des ewig Gleichen beschrieben, so trat christlich ein neues Verständnis hervor, das Zeit als dynamische, offene und in die Zukunft weisende Dimension ansah. Dieses neue Verständnis bot Spielraum für ein wirkliches Handeln und für Geschichte. Es gab eine Zukunft, die in ihrer Offenheit zu gestalten war. Diese Offenheit beflügelte das Freiheitsdenken der Menschen. Sie war aber auch dazu angetan, Versagensängste zu wecken. Die biblische Geschichtsauffassung unterfing diese ambivalente Qualität, indem sie Zeit als eine von Gott eröffnete und durch ihn gehaltene Dimension beschrieb. Nach jüdisch-christlichem Verständnis ist Gott es, der die Freiheit des Menschen nicht nur gewährleistet, sondern auch deren Entfaltung begleitet und als Herr über die Zeit dafür bürgt, dass die Geschichte als Ganze letztlich sinnvoll ist, die Schöpfung und der Mensch am Ende also nicht ins Nichts fallen.

Der großen, grundsätzlichen Offenheit der Zeit entsprach eine kleine, allwöchentlich erinnerte Offenheit, wie sie im jüdischen Sabbat und im christlichen Sonntag bewahrt ist. Reserviert für Gottesdienst und Muße wie für die Freude an der geleisteten Arbeit sind Sabbat und Sonntag konkreter Ausdruck der Gottebenbildlichkeit. Sabbat und Sonntag wirken als „Palast in der Zeit“, sie sollen den zur Freiheit berufenen Menschen vor einer Versklavung durch Arbeit bewahren. In der Antike nahm man Anstoß daran, dass Juden und Christen jeden siebten Tag schlicht gar nichts taten. Ihr regelmäßig wiederkehrender Ruhetag galt Zeitgenossen als Zeichen spektakulärer Faulheit. Historiker halten heute fest, dass Sabbat und Sonntag das Bewusstsein menschlicher Würde nachhaltig stärkten. Als freie Tage waren sie ein unübersehbares Zeichen dafür, dass der Wert eines Menschen sich nicht in seiner Arbeitsleistung erschöpfte. Der allgemeine Ruhetag bot Freiraum für kulturelle Veranstaltungen und Feste. Er gewährte zudem eine Auszeit zur Erholung. Dies beugte körperlicher und seelischer Erschöpfung vor und sorgte langfristig für den Erhalt der menschlichen Arbeitskraft. Die Kreativitätsforschung bringt den rhythmisch wiederkehrenden Ruhetag darüber hinaus mit der auffallend hohen Innovationskraft der abendländischen Zivilisation in Verbindung.

 

2.2.4 Gott als der menschenfreundliche Gott der Liebe

Im Verständnis des Menschen, des Raumes und der Zeit erschien der biblische Gott bereits als einer, der den Spielraum menschlichen Handelns maximal groß bemisst und sich selbst dabei auffallend stark zurücknimmt. Die darin angelegten Konturen des Gottesbildes verdichten sich in der Botschaft Jesu. Sie lässt einen durch und durch menschenfreundlichen Gott vor Augen treten, der seine Größe in neuer Weise bestimmt.

Die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen, leuchtet einmal schon in der Menschwerdung des Sohnes Gottes auf. Religionsgeschichtlich einmalig ist die Aussage, dass der unendliche Abstand zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf überbrückt, und zwar von Gott aus überbrückt ist. Als Mensch unter Menschen verkündet Jesus die unendliche Liebe Gottes, die alle Menschen retten will. Spektakuläre Heilstaten, die seine Verkündigung begleiten, machen die alle Grenzen überwindende und unendlich Leben spendende Macht Gottes leibhaftig erfahrbar. Gott erscheint damit als einer, der über alle irdischen Kategorien von Schuld und Strafe, Krankheit und Tod hinaus Leben anbietet und sich eben darin als Liebe in Person erweist.

Wie rückhaltlos Gott sich zurücknimmt und sich vom Handeln anderer betreffen lässt, zeigt das Geschick des Sohnes. Dessen Verkündigung erreicht ihr Ziel zunächst nicht. Sie scheitert an der Bosheit derer, die sich gegen eine Veränderung der Verhältnisse wehren und das göttliche Angebot insgesamt ablehnen. Diese Widersacher wollen das Evangelium aus der Welt geschafft sehen und den Verkündiger gleich mit dazu. Am geschundenen Leben Jesu wird sichtbar, wie konsequent Gott die Freiheit des Menschen und die Offenheit der Geschichte achtet. Gleichwohl bleibt er selbst dann noch Herr der Geschichte. Weil er die unerschöpfliche Quelle des Lebens ist, kann er den Tod seines Sohnes nicht nur zulassen, sondern ihn auch heilbringend wandeln. Jesus wird vor den Augen dieser Welt erniedrigt und hingerichtet. Die lebensspendende Macht des Vaters sorgt jedoch dafür, dass der Sohn nicht im Tod verbleibt, sondern in das durch Gott geschenkte neue, unzerstörbare Leben aufersteht.

Im Geschick Jesu offenbart der christliche Gott sich damit als ein Gegenüber, dessen Größe gerade darin besteht, dass er es wagen kann, sich klein zu machen (Kol 1,15-20). In dieser Selbstentäußerung unterscheidet der christliche Gott sich grundlegend von allen Potentatengöttern, die sich durch Macht, Stärke und Überlegenheit auszeichnen. Macht, Stärke und Überlegenheit sind zwar Merkmale, die sich auch im christlichen Gottesbild finden, denn als der schöpferische Urgrund der Welt bleibt Gott der selbstverständlich Überlegene. Diese Überlegenheit ist für ihn jedoch nicht wesensbestimmend. Im Zentrum des christlichen Gottesbildes steht nicht die Dominanz sichernde Macht der Unterwerfung, sondern die Leben schenkende Macht der Liebe. Sie verzichtet darauf zu unterwerfen und zeigt sich stattdessen schöpferisch, da sie um das freie Ja derer wirbt, die als Geschöpfe selbst klein sind, durch Gottes Zuwendung aber groß werden sollen.

Das besondere, christliche Gottesverständnis erweist sich damit als krönender Schlussstein des Angebotes, mit dem das Christentum Europa geprägt hat. Das Bild des grenzenlos menschenfreundlichen Gottes steht hinter der Würdigung des Menschen als Ebenbild Gottes. Es begegnet in der großzügigen Übereignung der Schöpfung an den Menschen, der die ganze Welt als seinen Lebensraum betrachten darf. Dieses Gottesbild leuchtet darüber hinaus auf im Verständnis der Zeit als einem Freiheitsraum, in dem die Geschichte der Welt zu einer Liebesgeschichte zwischen Gott und den Menschen werden kann.

 

3 „Christliches Abendland“ -
historisches Vorbild für ein Miteinander der voneinander Unterschiedenen

Historische und theologische Präzisierungen haben gezeigt, dass der Begriff „christliches Abendland“ in ganz anderen Horizonten anzusiedeln ist, als die aktuelle politische Debatte dies tut. Weder die Rede vom Abendland, noch die vom christlichen Abendland hat in irgendeiner Weise mit einem Einmauern im Eigenen zu tun. Mehr als 2000 Jahre europäischer Geschichte belegen im Gegenteil, dass das Abendland sich stets als Teil eines größeren Beziehungsgefüges verstand, zu dem ein Morgenland gehörte, das als Gegenüber mindestens ebenbürtig war. Das damit beschriebene Miteinander der voneinander Unterschiedenen war historisch gesehen keineswegs spannungsfrei, immerhin aber hat es sich über mehr als zwei Jahrtausende erhalten und damit als Form des Zusammenlebens bewährt. Wie erfolgreich dieses Zusammenleben war, zeigt sich nicht nur in bedeutenden Errungenschaften, sondern auch in der Attraktivität, mit der der Kontinent heute auf viele Menschen ausstrahlt. Dies spricht entschieden gegen eine Haltung, die den traditionsgesättigten Abendlandbegriff widerstandslos Gruppen überlassen will, die ihn inhaltlich verfremden und zum politischen Kampfbegriff machen.

Gleichwohl ist das alte, zwischen Morgenland und Abendland ausgespannte Beziehungsgefüge nicht ohne weiteres auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Unklar ist einmal schon, wo das Abendland wirklich auf Europa zu beschränken ist. Unklar ist des Weiteren, wo es in seinen heutigen, europäischen oder auch in seinen transatlantischen Dimensionen ein Gegenüber fände, an dem es sich ausrichten, mit dem es sich austauschen und von dem es lernen könnte. Die Länder des alten Orients dürften aktuell dazu kaum in der Lage sein. Des Weiteren macht es unter den Bedingungen einer globalen Welt wenig Sinn, die eigene Orientierung vom Mittelmeerraum ausgehend zu suchen. In einer immer weiter zusammenwachsenden Welt dürfte es angemessener sein, die eigene Tradition in größeren Dimensionen zu denken. Wären zum Abendland dann über Europa hinaus die von diesem Kontinent aus kolonialisierten und noch weiter westlich gelegenen Gebiete Nord- und Südamerikas zu rechnen, so würden die Länder Asiens als des Fernen Ostens sich als mögliches Gegengewicht anbieten. Sie wären zweifellos in der Lage, in ihrer bereichernden wie in ihrer bisweilen irritierenden Andersartigkeit zu einem Partner zu werden, der in seiner Strahlkraft dem ehemaligen Morgenland entspräche.

Mit dieser Ausweitung wäre zwar das alte Ost-West-Verständnis neu belebt, aber keine wirklich zufriedenstellende Lösung gefunden. Ein erster, geografisch bedingter Makel läge bereits darin, dass das weit im Osten liegende, aber fraglos europäisch beeinflusste Australien in dieser Neuordnung nicht glatt unterzubringen ist. Bedeutsamer noch wäre die Sorge, über der Fixierung auf eine Ost-West-Ordnung könnten die Nord-Süd-Dimension des Globus und die sich aus ihr ergebenden besonderen Herausforderungen übersehen werden. So wird man gut daran tun, die Rede vom Abendland nicht zu überdehnen. Ihr Zeiten überdauernder Wert ist dennoch nicht zu unterschätzen. Er liegt genau darin, dass die Rede vom Abendland ein geschichtlich bewährtes Muster präsent hält, an das man sich erinnert und das man pflegt, das man im Blick auf die Erfordernisse der Zeit aber auch behutsam weiterentwickeln muss.

Die christliche Prägung dieses Musters dürfte gerade für diese letzte, in die Zukunft weisende Aufgabe von großer Bedeutung sein. Der Weg zu einem neuen, globalen Miteinander der voneinander Unterschiedenen ist noch nicht gebahnt. Abzusehen ist jedoch, dass jeder der genannten vier Impulse, mit denen das Christentum Europa geprägt und bereichert hat, in der anstehenden globalen Herausforderung von hohem Wert sein kann. Das Verständnis des Menschen als einem mit unveräußerlicher Würde begabten Wesen, das Verständnis der Welt als Lebensraum für alle Menschen und das Verständnis der Zeit als Freiraum, der in seiner Offenheit tagtäglich zu gestalten ist, all diese Elemente markieren verlässliche Pfeiler für ein Miteinander, das auf Freiheit und Gleichberechtigung ebenso abhebt wie auf eine verantwortliche, Ressourcen schonende Weiterentwicklung. Zugegeben, die Ziele des Miteinanders sind damit maximal hoch gesteckt. Doch wird es hochgesteckter und weitgespannter Ziele bedürfen, um das globale Miteinander der unübersehbar vielen, voneinander Unterschiedenen realisieren zu können.

In diesem Miteinander der voneinander Unterschiedenen wird es darauf ankommen, die zu integrieren, denen die neue, globale Weite vor allem Angst macht. Diese Angst ist mehr als verständlich. Mit der Offenheit der Räume, der Vielzahl der Beteiligten, der Verschiedenheit der Kulturen und der Geschwindigkeit der Veränderungen steigt die Komplexität der Entwicklung und mit ihr die Wahrscheinlichkeit von Konflikten. Daher ist es unerlässlich, miteinander im Gespräch zu bleiben und um gegenseitiges Verständnis zu ringen. Nicht alles wird man auffangen und klären können. Umso wichtiger wird es gerade dann sein, darauf vertrauen zu können, dass Gott selbst in der Geschichte der Welt anwesend ist und das Weltgeschehen nicht nur frei lässt, sondern auch trägt und als Herr der Welt dafür einsteht, dass die Entwicklung nicht im Chaos versinkt, sondern auf Wegen und Umwegen schließlich doch zu vielfältiger Lebendigkeit findet.

 

Fußnoten

[1] Heute sind immer noch zwei von drei Europäern Mitglied einer christlichen Kirche.
[2] Vgl. Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt, Münster 2007, S. 485-577.
[3] Vgl. Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., München 2016.
[4] Vgl. ders., Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005, S. 117-163.
[5] Vgl. Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Herausforderung an Kirche und Gesellschaft, Darmstadt ²2016.
[6] Vgl. Paul Badde, Die himmlische Stadt. Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft, München 1999.
[7] Vgl. Orlando Patterson, Freiheit, Sklaverei und die Konstruktion der Rechte, in: Hans Joas / Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt am Main 2005, 164-218.

 

Dieser Artikel erschien ebenfalls in der Zeitschrift "Lebendiges Zeugnis" (https://www.lebendiges-zeugnis.de/), der theologischen Fachzeitschrift des Bonifatiuswerkes der deutschen Katholiken e.V.

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